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العنوان
Radikalismus als Thema in der deutschen und ägyptischen
Gegenwartsliteratur:
المؤلف
Salem, Shaima.
هيئة الاعداد
باحث / شيماء يحي سالم
مشرف / باهر محمد الجوهري
مشرف / ضياء الدين النجار
تاريخ النشر
2022.
عدد الصفحات
280 P. :
اللغة
الإنجليزية
الدرجة
الدكتوراه
التخصص
الأدب والنظرية الأدبية
تاريخ الإجازة
1/1/2022
مكان الإجازة
جامعة عين شمس - كلية الألسن - قسم اللغة الالمانية
الفهرس
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Abstract

Die Analyse der Radikalisierungs- sowie Deradikalisierungsmotive auf der Folie der vier Figuren in dem arabischen und dem deutschen Roman bietet mögliche Antworten auf die Forschungsfragen, die bereits zu Beginn der Untersuchung gestellt werden:
- Wie wird das Motivpaar (Radikalisierung - Deradikalisierung) literarisch verarbeitet und thematisch behandelt?
- Wie lassen sich junge Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen anhand der Romane radikalisieren?
- Wie kann sich eine Person anhand der Romane von den radikalisierten Ideologien befreien?
• An dieser Stelle sind folgende Punkte zunächst zu unterstreichen:
- Das Thema der Radikalisierung ist komplex, da es in erster Linie einen individuellen Prozess darstellt. Diese Untersuchung kann keine endgültigen Antworten zu den Motiven der Radikalisierung geben. Sie enthüllt jedoch mögliche Hintergründe und behandelt einzelne Aspekte.
- Bei der Darstellung der Motive, die die Figuren zur Radikalisierung treiben, sowie der Kehrmotive, die zu ihrer Deradikalisierung beitragen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass jedes einzelne Motiv weder von den anderen zu trennen, noch als ein allgemeingültiges Motiv zur Radikalisierung zu betrachten ist, da es sich ansonsten um eine Pauschalisierung der Motive handeln würde. Das Zusammenwirken der Motive auf der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene ist genauso wichtig wie ihre Existenz.
- Wie im Folgenden gezeigt wird, stehen die vier untersuchten Figuren im deutschen und dem arabischen Roman auf unterschiedlichen Stufen der
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Radikalisierung sowie der Deradikalisierung. Daher ist die vorliegende vergleichende Untersuchung von Vorteil, da sie einen Überblick über die Radikalisierungsprozesse als vielseitiges Phänomen bietet.
• Zusammenfassende Darstellung
Zusammenfassend erschließen sich aus der Analyse der Radikalisierungs-und Deradikaliserungsmotive der Figuren aus dem deutschen und dem arabischen Roman vier Modelle von radikalisierten Personen, die im Folgenden aufgezeigt werden:
1. Typ 1: Kognitiv radikalisiert, kognitiv deradikalisiert (Jakob): Mikro-Radikalisierungsmotive:
Bei diesem Typ ist kein unauffälliger sozialer Hintergrund zu erkennen, trotzdem hat er eine Scheinidentität. Obwohl seine Identität viele Aspekte aufweist, indem er in den Kontexten der Familie, Freunde und Arbeit agiert, erlangt er die davon von ihm erwarteten immateriellen Güter wie Anerkennung, zwischenmenschliche Wärme usw. nicht. Die Lebensaspekte, aus denen sich seine Identität zusammensetzt, sind allerdings nicht stark genug, um daraus eine erfolgreiche ausgeprägte Identität zu bilden. Er verzeichnet dabei mehr Misserfolge als Erfolge. Die Motive, die ihn dazu treiben, seine Grundidentität zu finden, sind wie folgt zu erklären:
- Komplizierte familiäre Beziehung: durch die Scheidung der Eltern, eine problematische Vaterfigur, kein positives Wertesystem bei der Erziehung, keine familiäre Wärme,
- Sinn- und Ziellosigkeit am Arbeitsplatz und im Studium wegen der Nicht-Verwirklichung des eigenen Traumjobs, das Universitätsstudium macht keinen Sinn,
- Fehlen an Wahrhaftigkeit im Leben, da er (Jakob) das Leben nur simuliert und sich kein echtes Leben aufbaut,
- Fehlen an Zugehörigkeitsgefühl, da er sich in diesem Umfeld nicht angepasst fühlt,

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- Einsamkeit und Entfremdung zu spüren auch wenn man von der Familie und Freunden umgeben ist,
- Idealist in einer unidealen Welt zu sein, da er hofft, durch diese Arbeit etwas Wertvolles leisten zu können, dann jedoch der Meinung ist, dass nichts besser wird
- Fehlen an Werten und Normen, da er sich nicht in der Lage sieht, sich an den Grundsätzen und Werten, an die er glaubt, zu orientieren
- Mangelnde Spiritualität: wenn alles zum Thema Religion zu einer konsumkapitalistischen Betäubungsindustrie wird,
- Leere zu empfinden, im Herzen und in der Seele,
- Hass gegenüber der Ungerechtigkeit, unter der viele Menschen auf der Welt leiden, sowie die eigene Schwäche und Unfähigkeit, dies alles zu ändern; das Gefühl der Unfähigkeit erzeugt ein Gefühl der Demütigung gegenüber dem Selbst.
Meso-Radikalisierungsmotive
Das radikale Milieu hat ihn, Jakob, psychologisch manipuliert und ihm eine Scheinidentität verliehen, mit der er seine Bedürfnisse als erfüllt ansieht, welche jedoch in Wahrheit nur illusorisch sind. Die Meso-Motive, die zu einer radikalen Scheinidentität treiben sind:
- das Sichbefreien von materiellen Abhängigkeiten, indem das radikale Milieu Themen zu Konsumabhängigkeiten der Menschen in Bezug auf Einkaufen, Alkohol, Nikotin, Arbeit oder Sex kritisiert,
- Gewissheit und Sicherheit: Die radikale Gemeinschaft scheint stets Lösungen an die Hand zu geben, die knapp, kurz und einfach gehalten sind. Dadurch erhält er das Gefühl von Sicherheit und kann zwischen Gut und Böse sehr leicht unterscheiden,
- Jugendbedürfnisse nach Abenteuer: Wenn er das Gefühl hat, etwas Gefährliches zu machen, wird seine Abenteuerlust befriedigt,

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- Er spürt Potenz und Bedeutsamkeit statt Machtlosigkeit, wenn er an den Aktionen der radikalen Gruppe teilnimmt,
- Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit: In der radikalen Gemeinde gewinnt er neue „Brüder“, die stets bereit sind, ihn zu verteidigen.
Auf diese Weise werden im radikalen Milieu die emotionalen Lücken in Bezug auf die Identität gefüllt. Dies macht Jakob demzufolge sehr anfällig dafür, deren Deutungsmuster und Erklärungsangebote anzunehmen und eine radikale Ideologie zu entwickeln. Die radikalen ideologischen Motive sind:
- Radikale religiöse Belehrung, wobei man ausschließlich einer radikalen Auslegung des Islam folgt,
- Hasslehren: Wir und der Rest der Welt, wobei man lernt, Nichtmuslime zu hassen, weil sie selbst uns hassen,
- Bewunderung des IS und Rechtfertigung ihrer Gewalttaten
- das Motiv der Instrumentalität wird auch vom radikalen Milieu erzeugt. Im Falle von Jakob, der die Welt als unrecht ansieht, könne er mit seinem Beitritt zum IS seine Rache gezielt gegen diejenigen richten, die die Welt zu einem unfairen Ort machen.
Makro-Radikalisierungsmotive:
- Inlandsprobleme:
Gesellschaftliche Missstände in Form von Rassismus gegen Muslime
seitens Hools, verlogene Kulissen wegen des ständigen Vortäuschens von Dingen im gesellschaftlichen Umfeld sogar in Bezug auf religiöse Angelegenheiten. Aus diesem Grund scheinen die Zurschaustellungen des IS überaus real, Missbräuchliche Ausnutzung der Frau seitens der Gesellschaft: Anstatt dem IS die Unterdrückung der Frau vorzuwerfen, sollte die westliche Welt an den Pranger gestellt werden, da sie die Frau als ein Produkt zur Schau stellt. Manipulation in der Gesellschaft: Im Fall von Jakob wird der Vorwurf
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abgelehnt, dass die radikalisierten Personen vom radikalen Milieu manipuliert werden. Stattdessen werden all diejenigen in den westlichen Gesellschaften angeprangert, die sich stets durch die Medien beeinflussen lassen.
- Auslandsprobleme
- Ökonomische westliche Ausbeutung: Man wird von den islamistischen Gruppierungen nicht ausgebeutet. Vielmehr besteht die reale Ausbeutung in der Lebensweise der westlichen Welt.
- Unrechte Kriege sind nicht diejenigen, die der IS führt. Er sieht sie eher in den von Israel verübten Verbrechen an den Kindern von Gaza und auch darin, wie Amerika mit seinen Drohnen und Folterknechten unzählige Menschen getötet hat.
- Keine Klarheit an Wahrheiten: Heutzutage ist alles undurchsichtig und fließend, sogar die Wahrheiten sind leicht zu manipulieren. Folglich genießen radikale Ansichten, die Gewalt rechtfertigen und legitimieren, bei vielen eine hohe Akzeptanz.
- Keine Hoffnung auf Veränderung der Welt
Die Tragödien, die unzählige Menschen auf der Welt erleiden, scheinen kein Ende zu nehmen. Die radikale Ansicht, dass die Welt völlig zerstört und auf eine gerechte Weise neu aufgebaut werden müsste, scheint deshalb plausibel zu sein.
Als Jakob schon kognitiv radikalisiert worden ist, weist seine radikale
Scheinidentität folgende Motive auf:
- Widersprüche statt Selbstsicherheit,
- Schein-Sein-Dualismus,
- Heuchelei statt wahren Lebens,
- ein falsches Gefühl von Zusammenhalt,
- ein Gefühl der Demütigung,
- ein falsches Gefühl der Bedeutsamkeit,
- Überlegenheitsgefühl statt Sicherheit,
- Intoleranz statt Liebe,
- radikale Ablehnung von Kompromissen,
- Faszination der Gewalt als religiöser Einsatz.
Kehrmotive zur Deradikalisierung:
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1. Kognitive Deradikalisierung: die radikalen Ideologien behindern
Zunächst werden die radikalen Überzeugungen überarbeitet, indem durch argumentative Gegenstrategien zu jedem Motiv auf der Mikro- Meso- und Makro-Ebene ein Kehrmotiv erzeugt wird. Dabei wird der Einfluss der Indoktrinierung des radikalen Milieus reduziert. Diejenigen, die diese Relativierungsversuche übernehmen, sind moderate Personen aus dem eigenen Umfeld. Im Falle Jakobs sind das: seine Geliebte Samira, sein Chef Golski und dessen Bekannter Sellring.
Relativierungsversuche: Argumentative Gegenstrategien:
- Abschottung und sich von allen zu distanzieren bedeutet Flucht, Schwäche und auf keinen Fall Selbstsicherheit.
- Wahrer Mut ist, sich mit den anderen kritisch auszutauschen, was auch den Kern des Islam darstellt.
- Der wahre Dschihad hat nichts mit dem Töten Unschuldiger zu tun, und der wahre Muslim ist weit davon entfernt, den Denk- sowie Verhaltensweisen radikaler Gruppierungen innerhalb des IS zu folgen.
- Israel und jedes kriminelle System sind keine Rechtfertigung für den IS: Die Brutalität der Feinde stellt keine Rechtfertigung dafür dar, dass wir selbst brutal werden.
- Der IS stellt keine Lösung für die Unschuldigen dar, denn muslimische Kinder zu retten sieht der IS nicht als seine Aufgabe an.
- Sabotage ist kein Dschihad, sondern Sachbeschädigung.
- Der wahre Islam ist keine Abenteuer: Man wird nicht zum Muslim, um die Abenteuerlust zu befriedigen.
- Gegen die Idee des Exklusivismus in der Religion: Das radikale Konzept
„Wir gegen den Rest der Welt“ ist nicht im Islam verankert.
2. Demobilisierungsversuche: Gefühle des Zweifels und der
Enttäuschung gegenüber dem radikalen Milieu
- Kritischer Angriff auf den radikalen Prediger, indem ernsthafte, sinnvolle Fragen nach seinen Deutungsmustern und Wertvorstellungen gestellt werden, die seine radikale Ideologie und unbegründete Deutungshoheit aufweisen.
- Rütteln am radikalen Milieu in Situationen, die das Gefühl negativ verstärken, gewisse Ideologien, Verhaltensweisen und einen bestimmten
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Lebensstil mit aller Macht aufgezwungen zu bekommen. Das Gefühl, abermals ein Leben voller Kompromisse eingehen zu müssen, wird dadurch verstärkt und führt zu einer entsprechenden Gegenreaktion.
Kognitiv deradikalisiert:
Diese Relativierungsversuche führen schließlich dazu, dass Jakob der Wahrheit offen ins Gesicht sehen kann: Er erkennt die wahren Motive, die ihn dazu trieben, den Weg des radikalen Milieus einzuschlagen sowie die eigene Krise, die er in seinem früheren Leben nicht bewältigen konnte.
Bei der Befreiung vom Einfluss des radikalen Milieus hilft ihm außerdem, dass er wahrnimmt, dass seine Freunde sowie auch viele andere ausschließlich gesteuerte Informationen über bestimmte Ereignisse durch die Medien erhalten, während ihnen andere Ereignisse gänzlich unbekannt sind. Das Ziel ist dabei stets, die Menschen dazu zu bringen, sich einer gezielten Einstellung anzunehmen und eine bestimmte Ideologie aufzubauen. Hier begreift Jakob, dass auf ihn ebenfalls psychologische Mittel ausgeübt werden, um für ihn eine radikale Ideologie herauszuschälen. Genau wie die Medien, die Menschen manipulieren und sie je nach Ausrichtung der Meldung glauben lassen, wer der Unschuldige und wer der Kriminelle ist, wird auch Jakob manipuliert.
- Beitrag zur Deradikalisierungsarbeit:
Dass Jakob kognitiv deradikalisiert ist, zeigt sich auch darin, dass er beginnt, Adil mit psychologischen Mitteln von der Radikalität abzubringen. Er hat dazu extra einen Plan B in Form einer Entführung ausgearbeitet, indem er Adil daran hindern will, den Flughafen zu erreichen, um nach Syrien aufzubrechen.
- Ein neuer Anfang: Er und seine Geliebte wollen schließlich gemeinsam und weit entfernt vom radikalen Milieu ein neues Leben beginnen.
2. Zweiter Typ: radikalisiert in die Gewalt und in der Gewalt, deradikalisiert (Adil)
Mikro-Radikalisierungsmotive:

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Im Falle von Adil gilt die Radikalität als eine Art Mechanismus zur Bewältigung seiner Identitätskrise, da er aus psychologischer Sicht unfähig ist, seine traumatischen Erlebnisse zu bewältigen. Motive zur Identitätskrise sind:
- Traumatisches Erlebnis: Als Kind verlor er die Mutter, die an Krebs erkrankt war. In der Folge machte Adil Schuldzuschreibungen für das Geschehen und sieht sich selbst als schuldig an dem Tod seiner Mutter. Der Vater verfällt in Depressionen und wird zum Totalausfall. Adil rutscht in die Welt der Kriminalität ab.
- Fehlen an Sicherheit und Zugehörigkeit als Folge der zerrissenen Familie
- Problematische Beziehung zur Religion
- Halb und nicht ganz ist das Gefühl, das man verspürt, wenn man sich wegen der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe der Eltern in der deutschen Gesellschaft vollständig zurechtzufinden hat.
- Verlorenheit wegen der verlorenen Identität im Elternhaus und der traumatischen Erlebnisse, was schließlich in die Welt der Kriminalität führt
- Übergang vom kriminellen zum radikalen Milieu: In Adils Fall beginnt der Extremismus bereits, als er in die Welt der Kriminalität abrutscht bis er schließlich im religiösen Extremismus landet.
- Gefühl der Demütigung wegen seiner kriminellen Taten
- Hassgefühl: gegenüber der eigenen Kindheit, in der die Mutter gestorben und die Familie zerbrochen ist, sowie gegenüber sich selbst wegen der eigenen Hilflosigkeit gegenüber der Krankheit der Mutter und wegen der früheren kriminellen Taten.
- Streben nach Tod als Selbstbestrafung, welche als ein Motivkomplex gilt, in dem sich Komplexe von Motiven verzahnen: Tod als Tilgung von eigener Schuld, das verlorene Paradies im Jenseits zu suchen, keine Existenz im Diesseits zu haben: kein Studium, keine Chancen auf eine gute Karriere bzw. darauf, eine Familie zu gründen.
- Einstieg in den IS: Alle vorgenannten psychologischen Motive setzten die Entscheidung voraus, in den IS zu ziehen und dort zu sterben. Dabei wird er nicht mehr nur in die Gewalt radikalisiert, sondern auch in der Art der Gewalt, die er dort ausübt.
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Meso-Radikalisierungsmotive:
Die Dynamiken der radikalen Gemeinde, die Videos des IS und später die Aktionen der terroristischen Gruppen im IS verbunden mit den von ihnen erzeugten drei Motiven „Identität“, „Ideologie“ und „Instrumentalität“ wirken sich entscheidend auf seinen Radikalisierungsprozess aus.
Identität-Motiv
- Die radikale Gemeinschaft bietet eine neue „Scheinidentität“ an, die einen
Ausweg aus seinem alten Leben bedeutet, indem sie nachstehend aufgeführte Gefühle erzeugt, die sich später als Illusion erweisen:
- Gefühl der Sicherheit: Das radikale Milieu lehrt eine einfache dichotome Weltsicht, die aus Gut und Böse besteht. Es stellt die Behauptung auf, dass man auf der guten Seite stehe so lang man zu ihm gehöre. Dies erzeugt bei Adil eine Art Gewissheit und ein Gefühl von Sicherheit.
- Solidarität und Zugehörigkeitsgefühl, da man das Wir-Gefühl unter den
„Brüdern und Schwestern“ spürt.
- Gerechtigkeitsempfinden: Adil empfindet in verschiedenen Lebensbereichen Ungerechtigkeit, welche gefühlt und nicht tatsächlich vorhanden ist. Einerseits empfindet er wegen seiner harten Kindheit die Welt ihm gegenüber als ungerecht, andererseits hält er sich selbst wegen seiner vorherigen kriminellen Taten für ungerecht. Die radikale Gemeinschaft verleiht ihm schließlich eine dichotome Weltsicht: Die Schuldigen sind immer die anderen, die Nicht-Muslime bzw. die anderen -
„Brüder und Schwestern“ ausgenommen. Die Pauschalisierung als Sichtweise erleichtert Adils Gerechtigkeitsempfinden.
- Hoffnung auf „Existenz“: In der radikalen Gemeinde muss er heiraten. Er kann nun eine Ehefrau haben und eine Familie gründen.
Ideologie-Motiv:
Die Gestaltung einer Scheinidentität seitens der radikalen Gemeinde geht dem Aufbau einer radikalen Ideologie voraus. Die radikale Motivlage dabei ist:
- Exklusivismus im Sinne davon, dass Gott nur unserer Gruppierung gnädig sei. Alle anderen werden im Jenseits in die Hölle geschickt.
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- Alleinvertretungsideologie: Dar al-Kufr präsentiert sich in der Denkweise, nach der alle Orte, die nicht vom IS erobert sind, als Dar al-Kufr (Das Land der Ungläubigen) gelten. Infolgedessen wird der Rest der Welt als Feinde betrachtet.
Motiv der Instrumentalität
Bei diesem Motiv wird die islamische Religion für totalitäre
Machtideologie instrumentalisiert:
- Bewaffnete Gewalt in Syrien und im Irak legitimieren und diese als religiösen heiligen Krieg und den Weg zum Paradies bezeichnen.
- Gewalt als Instrument zum Kampf gegen die weltweite Gewalt Im IS wird Adil von der Illusion des IS überzeugt, einem mächtigen idealen Staat nach dem „wahren“ Islam und einer neuen Weltgestaltung anzugehören.
Das Ziel ist dabei, stets in der Lage zu sein gegen den amerikanischen Terrorismus zu kämpfen.
Makro-Radikalisierungsmotive Inlandsprobleme:
- Sozioökonomische Benachteiligung, unter der Adil schon als Kind leidet, was für ihn das Radikalisierungsrisiko erhöht.
- Manipulation durch die Medien: Dass die Medien die Tatsachen manipulieren können, die sich auf das Töten in Syrien, im Irak oder in Palästina beziehen, sieht Adil als eine Rechtfertigung dafür, was der IS in seinen grausamen Videos durchführt.
- Die Lüge von Freiheit: Die unfriedlichen Außenverhältnisse an vielen Orten der Welt machen den Frieden und die Freiheit in der Welt nach Ansicht Adils zu einer Lüge, auch wenn man in Deutschland davon nicht direkt betroffen ist.
Auslandsprobleme
Unechte Welt und unmoralische Weltordnung: Die Kriege überall auf der Welt lassen Adil glauben, dass das globale politische System sowie die
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Weltordnung unmoralisch sind. Folglich möchte er dagegen vorgehen und diesen Umstand mit Gewalt ändern.
- Wahre Terroristen: Die Truppen, die die syrischen Kinder töten, und die syrischen Städte zerstören seien bestimmt der Westen und nicht der IS.
- Die Ausbeutung und Korruption des Planeten lassen Adil so denken, dass geradezu die Gründung eines idealen Gottesstaates (IS) erforderlich sei.
Kognitiv deradikalisiert und demobilisiert:
Adils Wandel hin zur Deradikalisierung vollzieht sich nach seiner Ankunft im IS Schritt für Schritt. Mit eigenen Augen sieht er hier all die Schrecken, das Blutvergießen, das Morden und die Ungerechtigkeit, die vom IS ausgehen. Der IS erfüllt seine psychischen Bedürfnisse nicht mehr, ganz im Gegenteil, er steigert sogar seine Identitätskrise noch. Für jedes Motiv, das ihn zum Anschluss an den IS treibt, hat er nun ein Kehrmotiv. Adil kann sich letztendlich nicht länger mit dem IS identifizieren.
- Schreiben (Tagebucheinträge): Das Niederschreiben der IS-Fakten sowie der eigenen Gefühle und Gedanken in einem Tagebuch ist bei dem Deradikalisierungsprozess äußerst hilfreich dabei, die Erwartungen auszuwerten und die eigene Entwicklung klar nachzuvollziehen.
- Umbruch der Anfangseuphorie: Je länger Adil bei den IS-Kämpfern verweilt, desto mehr Zweifel regen sich in ihm.
- Auch im IS gibt es Kriege gegen die Muslime: Im IS werden nicht alle Muslime als „Brüder und Schwestern“ angesehen. Muslime werden sogar als Feinde betrachtet, wenn sie anderen Gruppierungen angehören.
- Überwachung und Misstrauen gegenüber allen neuen IS-Mitgliedern.
- Ähnlichkeiten zur kriminellen Phase: So rechtfertigen die IS-Anführer zum Beispiel das Ausrauben von Banken und die Verteilung von Drogenpillen an ihre IS-Mitstreiter.
- Begegnung mit weiteren Grausamkeiten des IS wie zum Beispiel:
- Todesstrafe für alle Gegner: Im IS werden alle Männer umgebracht, die Zweifel an dessen Zielen des IS hegen und daraus fliehen wollen

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- Beim IS handelt es sich um ein großes Gefängnis: Alle Orte, die vom IS erobert werden, werden zum Gefängnis für ihre Bewohner. Die schwierige Erfahrung im Gefängnis wiederholt sich im IS.
- Terror bei den Einheimischen: Die Einheimischen sehen die IS-Kämpfer als Terroristen an, die ihr Land erobert haben. Das Image vom
„Heldentum“, das in seinen Vorstellungen in Bezug auf das „Kalifat“ herrscht, ist nun zerstört.
- „Bestialität“ und nicht „Jugendsünde“: Die übertriebene Gewalt des IS, die Adil stets als Jugendsünde ansah und auf diese Weise zu rechtfertigen versuchte, kann er nicht nachvollziehen und bezeichnet sie nun als
„Bestialität“
- Der IS: ein großer Puff („Sklaven-Leasing“): Die Frauen aus den vom IS eroberten Gebieten werden wie Sklavinnen behandelt; sie werden verkauft und sogar gemietet, ganz so als handele es sich beim IS um einen großen Puff.
- Kinderausbeutung: Adil findet heraus, dass unter den Mädchen, die als Ehefrauen für IS-Kämpfer ausgewählt werden, noch Kinder sind, die unter Zwang vergewaltigt werden.
- Sich distanzieren vom falschen Kalifat: Das in seinem Wunschdenken existierende Kalifat bleibt für Adil ein Traum, denn er erkennt, dass das Kalifat in seinen Vorstellungen nichts mit der IS-Realität gemeinsam hat.
- Im IS ist der Tod wichtiger als das Leben: Der IS will kein Leben für die Menschen aufbauen, sondern sie ausschließlich zum Kampf drängen.
- IS-Anhänger leiden unter psychischen Problemen: Adil überdenkt seine eigenen Motive, die ihn zum IS-Beitritt bewogen haben, und stellt sich die Frage ob er ebenso wie die anderen psychologisch traumatisiert ist. Hiermit begründet er seine Entscheidung, dem IS beigetreten zu sein.
- Der neue Job im IS ist viel schlechter als der in der kriminellen Phase angesichts dessen, was man im IS den Frauen antut.
- Adils Ehefrau Siham: Statt durch seine Ehe mit Siham endlich das Gefühl zu haben, am Leben zu sein, findet er bei ihr keinen Zuspruch für das Leben, sondern für das Sterben, da sie ihn lediglich dazu ermutigt, andere Menschen zu töten und selbst den Tod zu finden. Siham treibt ihn dazu,

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sich in ein Monster zu verwandeln und die entführten Gefangenen im Namen der Religion zu vergewaltigen.
- Adil sieht sich als ein neues IS-Monster: Der letzte Vorfall mit einer der Gefangenen, die er selbst vergewaltigt und dann umgebracht hat, bestätigt Adil, dass er durch seinen Anschluss an den IS zu einem Monster mutiert ist.
- Vollendung des Deradikalisierungsverlaufs: Adils neuer Weg ins Paradies führt nicht über den Krieg an der Seite des IS. Vielmehr entscheidet er sich, einen anderen Weg einzuschlagen, um ins Paradies zu gelangen. Nach alledem, was ihm im IS widerfahren ist, sieht er nur noch eine Lösung, seine Würde wieder herzustellen und sich von all seinen Sünden reinzuwaschen: Er begeht Selbstmord, jedoch nicht für den IS, sondern gegen ihn, was Opfer in den eigenen IS-Reihen zur Folge hat.
3. Typ 3: Kognitiv radikalisiert, und anschließend demobilisiert (Amir)
Mikro-Radikalisierungsmotive:
- Kindheit: Vaterverlust, dann Schock und Ratlosigkeit, als er herausfindet, dass sein Ersatzvater eine korrupte Persönlichkeit hat und seine Mutter ausnutzt,
- Teenagerzeit: Gefühle von Scham, Schande und Demütigung: Amirs Teenagerzeit ist von Gefühlen der Demütigung und Rache geprägt, nachdem er versteht, dass die Mutter aus Angst und finanzieller Krise eine Mätresse ist,
- Jugendzeit: Rachemotiv gegen alle, die ihn demütigen,
- Diskriminierungs- und Erniedrigungserfahrung: Alles was Amir in seinem bisherigen Leben erreicht hat, ist noch immer nicht genug, um von anderen mit Respekt behandelt zu werden, gleichberechtigt wie die anderen zu sein und nicht nach seiner sozialen Herkunft beurteilt zu werden.

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- Die Erfahrung von Unzufriedenheit und Unmut: Die wiederholten Diskriminierungs- und Erniedrigungserfahrungen rufen in ihm ausschließlich die Gefühle von Unzufriedenheit und Unmut hervor.
- Zwang zum Ziehen zum IS: Als Strafe für seinen Wunsch, die Tochter seines Vorgesetzen im Geheimdienst heiraten zu wollen, wird Amir von letzterem beauftragt, nach Syrien in den IS zu ziehen und dort als Geheimagent zu arbeiten. Dies kommt dem direkten Weg in den Tod gleich.
Meso-Radikalisierungsmotive
Dabei stehen auch die Identitäts-, Ideologie- und Instrumentalitäts-Motive im Mittelpunkt, die bei Amir in den zirkulierenden Diskursen des radikalen Milieus ausgelöst werden. Die Strategien des radikalen Milieus, die Ideologie Amirs zu ändern, stützen sich auf psychologische Dynamiken wie Indoktrination und Gruppendruck (Ideologie-Motiv). Sie zielen außerdem darauf ab, eine diagnostische Rahmung herzustellen, in der die politischen Systeme der arabischen Länder, vor allem in Ägypten, delegitimiert und als korrupt und verkommen deklariert werden sollen. Schließlich verleiht diese Rahmung eine emotionale Bindung zu den unterdrückten Opfern dieser Systeme, die Amir helfen kann, sich dem IS anzuschließen (prognostische Rahmung). Der IS verspricht ihm darüber hinaus eine sehr gute Zukunft (motivationale Rahmung). Andererseits geben die IS-Anführer Amir immer wieder das Gefühl von Würde, Bedeutsamkeit und Wertigkeit; Motive, die er in seinem Land niemals zuvor erfahren hat (Identitätsmotiv). Für ihn bedeutet der Eintritt in das radikale Milieu außerdem eine Befreiung von seinem bisherigen Leben und eine gute Chance, sein Rachebedürfnis zu befriedigen (Instrumentalitäts-Motiv).
Ideologie-Motiv
- Deutungsrahmen produzieren: Ägypten ist der Feind, der IS ist das Heimatland
Um die Ideologie Amirs zu beeinflussen und den Hass auf das Heimatland zu verstärken, wird ein Deutungsrahmen hergestellt, in dem Ägypten als Feind und der IS als Heimatland gezeigt werden. Dabei erinnert das radikale Milieu
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im IS ihn stets daran, dass er in Ägypten nur Strafen ausgesetzt war – im IS wird die Vergebung hingegen als ein hohes Gut darstellt. Es überzeugt ihn weiter, dass Ägypten keine Loyalität verdient. Es erinnert Amir an all die Dinge, unter denen er in Ägypten gelitten hat: An die Schande, den Verrat und die Demütigung, von denen er trotz seiner harten Arbeit in Ägypten betroffen war. Zu dem Produzieren der radikalen Deutungsrahmen wird zudem noch die Verleugnung von Ägypten als Heimat eingepflanzt, in dem die einfachen Leute ein Leben in Armut und Demütigung führen, während die Mitglieder der herrschenden Systeme in Luxus schwelgen. Um die Zugehörigkeit zum IS weiter zu festigen, wird ferner eine neue ideologische Idee erzeugt, nämlich dass alle arabischen Länder von den USA versteckt regiert würden, während der IS von seinen Anführern regiert wird.
Der zweite Schritt seitens der radikalen Gemeinde, um ihm eine neue Identität zu verleihen, ist, bei ihm Identitätsstiftende Motive zu erzeugen, die die Lücken in seiner früheren Identität ausfüllen bzw. nur scheinbar ausfüllen:
- Versprechen von hohen Positionen im IS im Gegensatz zu seinem Gefühl der Diskriminierung aufgrund seines niedrigen sozialen Niveaus in der vormaligen Tätigkeit in Ägypten,
- Gefühle der Sicherheit und Würde, indem ihm wiederholt mitgeteilt wird, dass man hier Gleichberechtigung findet, und jeder den Rang verliehen bekommt, den er verdient.
- Gefühle von Bedeutsamkeit und Selbstvertrauen zu erzeugen und Existenz zu schenken, indem die Anhänger im IS heiraten, eine Familie gründen und einen Arbeitsplatz zugesichert bekommen.
Makro- Radikalisierungsmotive:
- Mobbing am Arbeitsplatz wegen des niedrigen sozialen Hintergrundes,
- Korruption: das korrupte Umfeld, in dem Amir einst gelebt hat, die Familie, in der er aufgewachsen ist und sein korrupter Vorgesetzter.
Amir: demobilisiert:
Die Demobilisierungsmotive im Falle Amirs sind:
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- Ausbeutungserfahrung im IS: Amir ist sich bewusst, dass er auch hier im IS nichts anderes als ein Mittel zum Zweck ist, nämlich dafür, Siege zu erringen, die sich sein Anführer letztendlich selbst zuschreibt.
- Seine Frau Maram: Amirs Frau Maram spielt bei Amirs Befreiung von den Motiven, die ihn in seiner Zugehörigkeit zum IS einschränken, eine wichtige Rolle:
- Befreiung Amirs von der Zugehörigkeit zum IS: Sie befreit ihn von dem psychischen Zwang der Zugehörigkeit zum IS. Sie sind sich darüber einig, dass nur sie beide zueinander gehören.
- Gefühle von Sicherheit und Frieden: Bei Maram spürt er hingegen Sicherheit, Geborgenheit, Frieden und Liebe; Gefühle, die er aus seinem bisherigen Leben, das stets von Streitigkeiten geprägt war, nicht kannte.
- Eine gewisse Loyalität gegenüber dem Heimatland: Ungeachtet dessen wie sehr er es auch versucht, kann Amir seine Liebe zu seinem Heimatland Ägypten nicht vollständig aus seinem Herzen verbannen.
- IS-Verrat an Amir, indem sein Anführer ihn aus Eifersucht loswerden will.
- Flucht vor dem IS - Zurück nach Ägypten: Amir entscheidet sich dafür, seinem IS-Beitritt ein Ende zu setzen. Die Verschwörungen gegen ihn sowie die Ausbeutung seitens seines Anführers zerstreuen jedes externe Motiv, das Amir einst zum IS getrieben hatte. Amirs Austritt aus dem IS und seine Rückkehr in sein Heimatland bedeuten, dass er demobilisiert worden ist, auch wenn sein Motiv dabei nicht das Ablehnen des IS-Gedankenguts ist, sondern vielmehr, weil sein persönlicher Vorteil im IS zu Ende gekommen ist.
4. Typ 4: radikalisiert in die Gewalt, nicht deradikalisiert (Haider) Mikro- Radikalisierungsmotive
- Traumatisches Erlebnis: Vergewaltigung seiner kleinen Schwester Der schiitische Referenzimam nutzt die starke Loyalität der Eltern sowie ihre blinde Gehorsamkeit ihm gegenüber aus, und befiehlt ihnen, ihm ihre Tochter zu bringen, um sie gegen Geld zu heiraten.
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- Zerstörung von Haiders Familie: Der Referenzimam zerstört zunächst die Schwester, dann Haider selbst, indem er ihn ins Gefängnis schickt und schließlich Haiders Eltern, die lang nach ihrem vermissten Sohn suchen und aus Traurigkeit nicht mehr weiterleben können.
Meso- Radikalisierungsmotive
- Gefängniserfahrung: der erste Schritt auf dem Weg zum IS: Die Gefangenen, die allesamt IS-Anhänger sind, versuchen Haider aufzurichten und ihn auf ihre Seite zu ziehen. Im Folgenden wird erklärt, welche Motive, sie bei ihm erzeugen, um dies zu erreichen.
- Empathie zeigen: Er findet Akzeptanz und Empathie auf Seiten derjenigen, die religiös anders sind, während er ausschließlich Ungerechtigkeit in seiner Gemeinde erfährt.
- Offenheit bei der Diskussion religiöser Themen: Es war im familiären Haushalt stets verboten, mit den Eltern über religiöse Themen zu diskutieren oder die Worte der Imame zu kritisieren. Bei den IS-Mitgliedern bewundert er daher ihre Offenheit bei der Diskussion aller religiösen Einzelheiten.
- Haider schließt sich dem IS an: Er entscheidet sich schließlich dafür, sich dem IS anzuschließen, Haiders Motiv dabei ist, der IS-Gruppe zu helfen, aber auch sich selbst an dem Referenzimam zu rächen. Er erhofft sich dabei die Unterstützung der IS-Anführer, die ihm versprechen, seiner Familie ein Zuhause und ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und außerdem den Referenzimam umzubringen.
Makro- Radikalisierungsmotive
Radikalität innerhalb der Gesellschaft: Nicht nur die radikalen Gruppierungen des IS verfolgen eine radikale Ideologie. Auch in der Gesellschaft ist diese überaus verankert. So sind die Mitglieder dem Großimam gegenüber blind loyal eingestellt, obwohl sie wissen, dass er eine perverse Person ist. Die radikale Ideologie innerhalb der Gesellschaft bietet Haider demzufolge einen Nährboden für die Annahme radikaler Einstellungen, die der Radikalität seiner Gesellschaft entgegensteht.

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Haider: weder kognitiv deradikalisiert noch demobilisiert
Haider wird weder kognitiv deradikalisiert noch demobilisiert. Er ist sogar zu einem der mächtigsten Anführer im IS aufgestiegen. Die Radikalität in seinem Leben, die bereits im Elternhaus und darüber hinaus in der Gesellschaft vorherrscht, steigert sich im IS zum höchsten Maß, wenn auch in die Richtung des anderen Endpunktes des Extremismusstrangs. Für ihn sind diejenigen, die sich gegen die Radikalität des Referenzimams und seine Gemeinde richten, „moderate“ Personen. Wenn das Gedankengut der IS-Anhänger bestimmt, dass der Referenzimam ein Mörder und kein religiöser Mann ist, dann entspricht es dem logischen Gedankengut. Demzufolge gibt es kein Motiv für ihn, sich vom Gedankengut des IS zu distanzieren. Außerdem stellt sein Anschluss an den IS für ihn somit die einzige Möglichkeit dar, sich an all den Menschen zu rächen, die ihm und seiner Familie Unrecht getan haben, um wieder ein (normales) Leben führen zu können.

• Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem arabischen und dem deutschen Roman:
- Dem deutschen sowie dem arabischen Roman ist gemein, dass Radikalisierung ein individueller sowie gradueller Prozess ist und keine universell gültigen Hintergründe hat. Die Radikalisierungsmotive aller Figuren sind auf die Mikro-, Meso- und Makro-Ebene hin zu untersuchen. Unbestritten ist jedoch, dass dabei stets die Krise der Identität im Mittelpunkt steht, welche hier als ein Grundmotiv gilt und letztendlich immer für die psychologischen Probleme des radikalen Individuums verantwortlich ist.
- Die Gründe für eine Identitätskrise sowie deren Aspekte und Folgen sind in beiden Romanen vielfältig. Daher sind die radikalisierten Personen auf verschiedenen Stufen der Radikalisierungsbahn angesiedelt. Daraus resultiert ebenso ein unterschiedlicher Grad an Deradikalisierung.
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- Die Identitätskrise ist hauptsächlich in der Kindheit verwurzelt und wächst mit dem Individuum immer weiter zusammen, sodass letzteres für den Einstieg ins radikale Milieu extrem anfällig wird; vor allem dann, wenn es dort die Möglichkeit zur Bewältigung seiner psychologischen Probleme und die Ausfüllung seiner Identitätslücken findet.
- Obwohl die Mikro-Motive zur Identitätskrise im deutschen und dem arabischen Roman unterschiedlich sind, weisen sie dennoch gemeinsame Motive auf, die bei allen Figuren aus den beiden Romanen zu erkennen sind, nämlich: familiäre Umbrüche, die zu traumatischen Erlebnissen zurückreichen, Fehlen an Zugehörigkeitsgefühl, Fehlen an Werten und Normen, Fehlen am Gefühl der Bedeutsamkeit sowie die Erfahrung von Unzufriedenheit und Unmut. Dies sind demzufolge die Motive, die am häufigsten bei der Identitätskrise präsent sind, und die jemanden anfällig für ein radikales Gedankengut machen. Ihr Zusammenwirken mit den anderen Motiven ist jedoch genauso wichtig wie ihre Präsenz.
- Die Mitglieder des radikalen Milieus in beiden Romanen wenden Strategien an, um dem Individuum zunächst eine radikale Identität und schließlich eine radikale Ideologie zu verleihen, die die Gewaltanwendung legitimiert. Die Motive zur radikalen Identität sind unterschiedlich, je nachdem welche Motive der Identitätskrise man aufweist bzw. welche Bedürfnisse in der radikalen Identität erfüllt bzw. scheinbar erfüllt werden. Aus der Analyse ergeben sich jedoch gemeinsame Meso-Motive bei der Gestaltung einer radikalen Identität, und zwar die Gefühle von Potenz und Bedeutsamkeit anstatt
Machtlosigkeit und Verlorenheit, Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit anstatt Entfremdung sowie Überlegenheit anstatt Unterlegenheit.
- Auf diese Weise werden im radikalen Milieu in beiden Romanen die emotionalen Lücken in Bezug auf die Identität gefüllt. Im nächsten Schritt ist man sehr anfällig dafür, Deutungsmuster und
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Erklärungsangebote des radikalen Milieus anzunehmen und eine radikale Ideologie zu entwickeln. Die gemeinsamen radikalen ideologischen Motive in beiden Romanen sind: Hasslehren (Wir und der Rest der Welt), Exklusivismus, Alleinvertretungsideologie und Faszination der Gewalt als religiöser Einsatz. Außerdem ist es gemein, dass das radikale Milieu ein gemeinsames Instrumentalität-Motiv benutzt: sich zu rächen und in einem religiösen heiligen Krieg zu kämpfen.
- Aus der Makro-Motivlage-Analyse der Figuren in beiden Romanen lassen sich außerdem gemeinsame Inlands- und Auslandsprobleme ableiten, die sich fördernd auf die Radikalisierung auswirken, nämlich gesellschaftliche Missstände und unrechte Kriege in der Welt.
- Die Deradikalisierungsprozesse in beiden Romanen sind unterschiedlich, je nachdem, wie tief beschädigt die Identität der jeweiligen Figur ist. Gemein ist jedoch, dass man durch Relativierungsversuche bzw. argumentative Strategien gegen die gewonnene radikale Ideologie kognitiv deradikalisiert werden kann. Demobilisiert werden kann das Individuum ferner, wenn Gefühle des Zweifels und der Enttäuschung gegenüber dem radikalen Milieu bei ihm erzeugt werden, oder wenn es zu persönlichen Begegnungen mit den Grausamkeiten oder zum Gefühl des Verrats und Unsicherheit des radikalen Milieus kommt, sodass zu jedem früheren Motiv, das es zum Anschluss ans radikale Milieu getrieben hat, ein Kehrmotiv erzeugt wird.
- Die vier untersuchten Figuren aus dem deutschen und dem arabischen Roman stehen auf unterschiedlichen Stufen der Radikalisierung sowie der Deradikalisierung. Daher ist die vorliegende vergleichende Untersuchung von Vorteil, da sie einen Überblick über die Radikalisierungsprozesse als vielseitiges Phänomen bietet. Die Romane stehen folglich in komplementärer Beziehung zueinander. Ein weiterer Vorteil der vergleichenden Untersuchung ist, dass die Romane sowohl aus der deutschen als auch der ägyptischen Kultur stammen, um zu zeigen, dass
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Radikalisierung ein internationales Phänomen ist, das sich nicht nur auf eine bestimmte Nationalität beschränkt.
- Ein weiterer Unterschied zwischen dem deutschen und dem arabischen Roman ist neben den Radikalisierungsstufen der Figuren das Ende einer jeden Geschichte. Im arabischen Roman bleibt Haider als radikalisierte Figur dargestellt, der zudem zu einem der mächtigsten IS-Anführer aufsteigt. Damit will der Autor einen Warnschrei abgeben: Unter uns sind noch Menschen, die potenzielle Anfälligkeit zur Radikalisierung haben. Deshalb entscheidet sich der Autor nicht für ein geschlossenes Ende. Das Ende bleibt offen, solange die Motive zur Radikalisierung in unseren Lebensverhältnissen vorhanden sind. Dies stimmt mit dem Titel des
Romans „Tage des IS“ überein, da das Wort „Tage“ neben seiner Bedeutung als „Schlachten“ noch eine Bedeutung der zeitlichen
Fortsetzung des Phänomens der Radikalisierung der Jugendlichen beinhaltet.
- Der deutsche Roman hat ein „scheinbares“ Happy-End, da beide Figuren letztendlich deradikalisiert worden sind. Das radikale Milieu bleibt jedoch im Roman aktiv, was zu möglichen weiteren Radikalisierungen der Jugendlichen beitragen könnte. Dies zeigt sich bereits im Titel „Dschihad Calling“, in dem die Verlaufsform „ing“ die Kontinuität des Geschehens verdeutlicht, was eine implizierte Aufforderung zu mehr Präventionsarbeit gegen Radikalismus enthält. Andererseits zeigt die englische Formulierung des Titels, dass das Phänomen nicht nur auf deutschem Boden existiert, sondern auch alle anderen Nationen betrifft.
• Ausblick
Ausgehend von den hier vorgestellten Ergebnissen könnte man bestätigen, dass die Literaturwissenschaft einen Beitrag zur sozialen Unterstützung leisten kann. Die Literatur ist ein Fenster auf die Gesellschaft und bietet mögliche Zukunftsperspektiven an. Deshalb soll die Literaturwissenschaft nicht von den anderen Geisteswissenschaften isoliert werden, sie sollen vielmehr einander ergänzen und voneinander profitieren.
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Die vorliegende interdisziplinäre Untersuchung gilt als ein wirkungsvoller Ansatz zur Prävention und Deradikalisierung, indem darin mögliche Hintergründe, Mikro- Meso- und Makro-Motive zur Radikalisierung sowie Kehrmotive zur Deradikalisierung detailliert untersucht werden. Dadurch kann der Leser sein Bewusstsein in Bezug auf dieses Phänomen vertiefen und sich vor der Gefahr der Radikalisierung schützen. Das Sich-Identifizieren mit den literarischen Figuren erzeugt eine starke Intensität und ein tiefes Verständnis zu allen Stufen, die die Figur durchlebt. Es wäre in diesem Zusammenhang lohnenswert, wenn sich die gewonnenen Erkenntnisse durch weitere literaturwissenschaftliche Untersuchungen ergänzen ließen. Es seien hier folgende deutsche und arabische Romane zu empfehlen: der Schuss (2017) von christian Linker, Zwei Brüder )2019) von Mahir Guven, Endland (2017) von Martin Schäuble, Halbmond über Rakka (2016) von Robert Klement, Black Box Dschihad (2013) von Martin Schäuble, In Berlin geschehen von Hisham El-Kheshen (2018) und Der Salafist (2014) von Ammar Ali Hassan.